Viel Lärm – wenig Substanz

WTI-Öl ist in diesen Tagen auf den tiefsten Stand seit Anfang 2021 gefallen, da steigende globale Lagerbestände den hohen geopolitischen Risiken entgegenwirken. Trotz der wieder zunehmenden Spannungen im Nahen Osten führt die Sorge vor einer schwächeren Nachfrage, besonders aus China, sowie Unsicherheiten über die OPEC+-Produktionspolitik zu diesem Preisrückgang.

Der Ölmarkt wirkte in den vergangenen Monaten erstaunlich lethargisch. Wachstumssorgen infolge der US-Zollpolitik, Rezessionsängste und die schneller als erwartete Rücknahme freiwilliger OPEC+-Kürzungen drückten auf die Stimmung. Viele Marktteilnehmer sehen bereits ein Überangebot heraufziehen.

Doch dieser Eindruck trügt. Die jüngste Preisschwäche hat das strukturelle Potenzial eines neuen Energie-Bullenmarktes nicht zerstört – sie hat ihn lediglich verzögert. Und genau das erhöht die Chancen auf deutlich höhere Preise in den kommenden Jahren.

Langfristiger Ausblick (3–5 Jahre): Das Ende des US-Angebotswachstums

Der zentrale strukturelle Faktor für den Ölmarkt ist das Ende des Wachstums außerhalb der OPEC – allen voran in den USA.

Anzeige
sharedeals Plus

Die Daten der US-Energiebehörde EIA zeigen klar:
Die US-Rohölproduktion hat ihren Höchststand bei rund 13,5 Mio. Barrel pro Tag erreicht. Seit rund 18 bis 24 Monaten gibt es praktisch kein nennenswertes Wachstum mehr – ein Novum nach zwei Jahrzehnten expansiver Schieferölproduktion.

Die Gründe sind fundamental:

  • Rückläufige Zahl von Bohranlagen, Fertigstellungen und DUCs
  • Sinkende Investitionen im Upstream-Bereich
  • Geologische Grenzen (Erschöpfung der Tier-1-Bohrlöcher, steigender Gasanteil)
  • Höhere Zinsen und Finanzierungskosten
  • Höhere natürliche Förderabnahmen bestehender Bohrlöcher
  • Fokus der Branche auf Cashflow, Dividenden und Aktienrückkäufe statt Wachstum

Kurz gesagt: Die US-Produktion stagniert strukturell.
Bei den aktuellen Ölpreisen befindet sich der Markt sogar in einer Phase der Angebotsvernichtung. Ohne deutlich höhere und vor allem nachhaltige Preise ist kein neuer Investitionszyklus zu erwarten.

Mittelfristiger Ausblick: Fundamentaldaten besser als die Stimmung

Der Markt preist derzeit ein Szenario ein, das gleich zwei negative Entwicklungen voraussetzt:

  1. eine globale Rezession
  2. ein massives Angebotswachstum durch OPEC+

Beides ist alles andere als sicher.

Kurzfristige Entwicklung: Geopolitische Prämie ist wieder raus

Da der Krieg im Nahen Osten vorläufig beendet ist und es zu keinen nachhaltigen Störungen der Ölflüsse kam, wurde die geopolitische Risikoprämie wieder ausgepreist.

Entscheidend:
Der Markt hat gesehen, wie schnell Angebotsrisiken real werden können – und bleibt sensibel. Die Straße von Hormus bleibt ein strukturelles Risiko, auch wenn sie aktuell keine Rolle spielt.

Der Knackpunkt bleibt die Nachfrage

Die Ölnachfrage wächst – langsamer als im historischen Durchschnitt, aber nicht auf Rezessionsniveau. Besonders aussagekräftig ist die implizite US-Nachfrage nach Benzin, Destillaten und Kerosin: Sie liegt 2025 im durchschnittlichen Bereich.

Der Konsens rechnet aktuell mit:

  • +0,7 bis +0,8 Mio. Barrel/Tag Nachfragewachstum 2025
  • +0,86 bis +1,00 Mio. Barrel/Tag 2026

Beides liegt deutlich unter dem langfristigen Schnitt von rund 1,2 Mio. Barrel/Tag – und spiegelt vor allem die schwachen Erwartungen für China wider. Genau hier liegt jedoch das Überraschungspotenzial:
Der Markt preist bereits ein Worst-Case-Szenario ein. Jede Stabilisierung in China oder Europa könnte zu deutlichen Aufwärtsrevisionen führen.

Die Rolle der OPEC+: Mehr Papier als echtes Öl

Die Rücknahme der freiwilligen OPEC+-Kürzungen um 2,2 Mio. Barrel pro Tag wird oft als Hauptargument für ein kommendes Überangebot genannt. Doch dieser Effekt wird überschätzt.

Warum?

  • Ein Großteil der Kürzungen entfiel auf Saudi-Arabien
  • Länder wie Irak und Kasachstan haben bereits zuvor überproduziert
  • Höhere Quoten führen dort nicht zu realem Mehrangebot
  • Exporte sind entscheidender als Produktionszahlen – und diese steigen bislang kaum

Fazit: Öl ist günstig – und das Zeitfenster schließt sich

Der Ölmarkt wirkt träge, pessimistisch und übervorsichtig positioniert. Genau das macht ihn attraktiv.

  • Das strukturelle Angebotswachstum ist gebrochen
  • Die US-Produktion stagniert
  • Investitionen bleiben aus
  • Die Nachfrage ist schwächer, aber stabil
  • Die OPEC+-Rücknahmen sind größtenteils kosmetisch

Kurzfristig fehlt der Katalysator. Doch sobald sich zeigt, dass

  • die Lager nicht explodieren,
  • die Nachfrage besser ist als befürchtet
  • und das Angebot nicht mithält,
  • wird der Markt umdenken müssen.

👉 Öl ist aktuell günstig – nicht trotz, sondern wegen der Skepsis.
Der nächste Bullenmarkt im Energiesektor wird nicht mit Euphorie beginnen, sondern mit der Erkenntnis, dass das Angebot schlicht nicht mehr wächst.

 

 

 

Miriam Kraus
Die selbstständige Finanzanalystin Miriam Kraus hat sich in den vergangenen 15 Jahren in der Branche einen Namen gemacht. Auftraggeber wie Banken und Investmentgesellschaften sind immer wieder beeindruckt von ihren akribisch recherchierten Berichten. Dabei hat sie sich weitreichende Börsenkenntnisse angeeignet, insbesondere in ihren Spezialgebieten Osteuropa-Aktien, Emerging Markets, Devisen- und Rohstoffmärkte.